09-12-07 - Nürtinger Stattzeitung - GAU in Neckarwestheim

Horkheimer kommen nach Nürtingen

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(th) Samstag, 12. Dezember, 7:20 Uhr. Das Reihenendhaus der Familie Bader in Horkheim schält sich müde mit seinen Nachbarn aus der Dämmerung. Drinnen herrscht wohlige Ausschlafatmosphäre. Plötzlich zerreißen Sirenen die adventliche Stille. „Was’n das für ein Lärm?“ träumt Jens in seinem Jugendzimmer. „Feueralarm?“ wähnt Papa Bader. Als die Sirenen endlich verstummen nähert sich eine Lautsprecherstimme. „Bewohner von Horkheim! Im Kraftwerk Neckarwestheim hat sich ein Unfall ereignet! Bitte begeben Sie sich mit warmer Kleidung und Proviant zur nächsten Bushaltestelle, von wo Sie zum Heilbronner Hauptbahnhof gebracht werden. Dies ist keine Übung! Bewohner von Horkheim …“ Das darf doch nicht wahr sein! Nach kurzem Schwanken zwischen Panik, Hysterie und Verantwortungsbewusstsein treibt Brigitte Bader ihre Kinder aus den Betten. Die Zwillinge Anne und Lena bestehen darauf ihren Goldhamster mitzunehmen. Jens schlüpft hektisch in Jogginganzug und Badelatschen und packt sein Netbook und sein Asthmaspray ein. Die Mutter stopft Klamotten und Waschzeug in zwei Reisetaschen, der Vater sucht schnell die wichtigsten Papiere aus dem Chaos in seinem Schreibtisch. Vor der Haustür schauen sich die Eltern verstört um „Du hast noch deine Lockenwickler im Haar“ „Wo ist eigentlich die nächste Bushaltestelle?“ Die Zwillinge wissen Bescheid „der Schulbus fährt immer an der Wagenburgstraße ab.“

Wie ist es dazu gekommen?
• 02:00 Uhr: Der Bedienungsleiter der Frühschicht im Atomkraftwerk Neckarwestheim beginnt pünktlich seinen Dienst.
• 02:40 Uhr: Nach einer bislang ruhigen Nacht wird er in die Zentrale gerufen. Die Anzeigen zeigen einen Druckabfall und entweichende Radioaktivität; Ursache unbekannt.
• 02:44 Uhr: Weiterer Druckabfall, ansteigende Radioaktivität. Der Reaktorleiter gibt den Befehl zur Schnellabschaltung und zum Einsetzen der Notkühlsysteme.
• 02:51 Uhr: Schlagartiger Druckabfall, die Notkühlsysteme sind sofort einsatzfähig. Die Alarmsirenen schrillen, hohe Radioaktivitätsabgaben. Trotz allem kommt es zu einem weiteren Druckabfall. Ein Blick in die Kontrollkamera 6 bestätigt: An der unteren Hälfte des Reaktordruckbehälters zeigt sich ein 40cm langer Riss der langsam anwächst.
• 02:58 Uhr: Der Vollalarm wird ausgelöst und die Räumung des Kernkraftwerks wird befohlen.
• 04:00 Uhr: Der Deutsche Wetterdienst meldet Wind aus Süd-Süd-Westlicher Richtung
• 04:30 Uhr: Die Umsetzung des Katastropheneinsatzplanes (KEP) für die 10 km-Zone um das Kernkraftwerk beginnt.
• 05:00 Uhr: Beginn der Krisensitzung in der Koordinationszentrale im Landratsamt: Da die A81 wegen einer Großbaustelle nur einspurig befahrbar ist, beschließt der Krisenstab, im Gegensatz zur Planung im KEP statt der individuelle Evakuierung mit Privat-PKW die Evakuierung mit der Bahn.
Horkheim (4.100 Einwohner), der einziger Stadtteil Heilbronns in der 10 km-Zone um das GKN, soll entsprechend den Vorgaben des KEP nach Nürtingen evakuiert werden.
• 08:00 Uhr: "Es besteht kein Grund zur Aufregung, alle Maßnahmen zur Beseitugung der Störung und ihrer Folgen sind schon im Gange.", sagt Bundeskanzlerin Angela Merkel in einer Live-Schaltung vom Klima-Gipfel in Kopenhagen in der ARD-Sondersendung Brennpunkt.
• 08:30 Uhr: Alle verfügbaren Busse des HNV werden eingesetzt um die Horkheimer Bevölkerung zum Hauptbahnhof Heilbronn zu bringen.

Dies ist der fiktive Hintergrund der bürgerschaftlichen Katastrophenschutzübung des Aktionsbündnisses Energiewende Heilbronn am Samstag, den 12. Dezember 2009. 100 Heilbronner kommen nach Nürtingen, um zu sehen, wie sie im Falle einer Evakuierung aufgenommen werden. Wenn Sie also beim Samstagseinkauf einige etwas verwirrte Unterländler treffen, seien Sie freundlich und heißen Sie sie willkommen.

• 10:54 Uhr: Am Gleis 1 des Nürtinger Bahnhofs werden die Heilbronner von einem Dekontaminationsteam empfangen.
• 11:04 Uhr: Freiwillige der Nürtinger Umweltgruppen begleiten die verunsicherten Flüchtlinge zum Marktplatz. • 11:06 Uhr: Schon aus der Ferne erkennen die Flüchtlinge aus Heilbronn ein eiligst erstelltes "Willkommens-Banner" besorgter Nürtinger Bürger.
• 11:15 Uhr: Auf dem Marktplatz hält der Oberbürgermeister Heirich eine kurze Ansprache an die Flüchtlinge und fordert die Nürtinger Bürger auf, Unterbringungsmöglichkeiten anzubieten.
• 11:20 Uhr: Ein Sprecher der örtlichen Umweltverbände BUND, IPPNW und NABU ruft gegenüber einem Lokalreporter zur Solidarität mit den evakuierten Horkheimern auf: "Auch die Menschen dort haben sich immer gegen die Atomkraft gewehrt."
• 11:45 Uhr: Anwesende Presse-Fotografen machen Fotos der Strahlen-Flüchtlinge.
• 12:00 Uhr: Bei einer kurzen Stadtführung stellen die Nürtinger den Heilbronnern ihre Stadt vor. Es wird über Unterbringungsmöglichkeiten z.B. in der Stadthalle diskutiert. Dabei werden Flugblätter an die Nürtinger verteilt und über die neuen Mitbewohner informiert um weitere Unterbringungsmöglichkeiten in Privathaushalten zu finden.
• 12:30 Uhr: Die Evakuierten werden mit einem heißen Essen versorgt.
• 13:15 Uhr: Filmvorführung zur Ablenkung der aufgeregten Neuankömmlinge
• 14:30 Uhr: Übung beendet - Resümee der Teilnehmer der selbstgemachten Katastrophenschutzübung
• 15.04 Uhr: auf Gleis 2 fährt der Regionalexpress zurück in Richtung Heilbronn ab.

Da haben wir noch mal Glück gehabt!

07.12.2009 - Nürtinger STATTzeitung - Umwelt - Thomas Hauptmann